Post-Sowjet-Punk made in Potsdam
Gerd Dehnel / MAZ 07.04.2001
Was einst Junge Pioniere beim Gruppennachmittag wenig begeistert trällern mussten - die revolutionären Lieder. aus dem sowjetischen Bruderland nämlich - das taugt seit einer Weile schon als Fundgrube für respektlos rockige Neu-Bearbeitungen.
Zu den Vorreitern dieser Art Post-Sowjet Punk zählt die Potsdamer Band "44 Leningrad" die seit 1990 mit Karacho musikalisch durch Steppen und Gebirge zieht. Da verbinden sich Balalaika- und Akkordeon-Klänge mit PogoRhythmen, Gitarren donnern auf Budjonnys Spuren. Auch westliches Liedgut schützt nichts vor der ' Russifizierung. Die Genossen dürften im Grabe rotieren, und in den Tanzpalästen ist ebenfalls Bewegung angesagt. Denn die Lieder vom Klassenkampf taugen heute zum Massentanz.
Und 44 Leningrad werden nicht müde, immer wieder ihre Speed-Folk-Maschine anzuwerfen und das Erbe durch den Wolf zu drehen, das sonst nicht mehr zu viel taugt. Außer vielleicht zur sentimentalen Untermalung von Veteranentreffen. Bei den Potsdamern ist wenig Platz für Sentimentalität. Sie blitzt höchstens mal auf, wenn Sängerin Jule ihre Sopranstimme in himmlische Höhen schraubt... Wozu sie auf dem aktuellen Album "STO!" leider zu selten Gelegenheit bekommt. Denn die Band hat sich zu einer noch schärferen Gangart entschlossen und zergrölt lieber sogar die eigentlich zärtlichen Stücke. So wird "Von dort!" mit Wodkastimme gekrächzt, erst zum Ende müssen die durchgeknallten Gitarren einem Walzerdreh weichen. Ein Akkordeon deliriert in"Padam Padam"'in schwindelerregenden Kreisen. Schwere Rockriffs zitieren in "Mamamia" ein Motiv der deutschen Electronic-Band Kraftwerk
An anderer Stelle müssen Edith Piaf und Herbst in Revier erweitert, in dem sie wildert. Auch orientalische Gesänge haben jetzt ihren Platz. Wenn sich 44 Leningrad doch einmal zur Sentimentalität hinreißen lassen, dann mit äußerster Konsequenz. ..,Die "Wolgaschlepper" müssen sich gut eine Viertelstunde lang den Fluss hinaufschleppen. Der Song bohrt sich mit hypnotischen Schleifen so lange in die Gehörgänge, dass er tagelang nicht wieder zu vertreiben ist. Es sei denn, man lässt die CD noch einmal laufen und meidet das Schlussstück.