Pressetext zum Jubiläum
Es regnet nie, wenn sie spielen...
Zwanzig Jahre auf dem Teck nach Osten: 44 Leningrad haben Geburtstag
(Von Velten Schäfer)
Am Anfang war der Beat. Der Off-Beat, der zwischen dem Osten und dem westlichen Pop, zwischen der Polka-Sphäre und dem Ska-Universum schon immer eine heimliche Brücke geschlagen hat. Nur hat erst eine Mauer fallen, ein Bildersturm aufziehen und ein aufkratzendes Jahr ins Land gehen müssen, bis jemand den schmalen Steg über den Folklore-Graben beschritt. Der angelsächsischen Coolness den Rücken kehrte, um auf das slawische Moll zu tanzen, auf die russische Seele anzustoßen und sich am Pathos des Bolschewismus zu berauschen.
Nach Leningrad sind vier aus der Sowjetgarnison an der Havel vor 20 Jahren aufgebrochen, doch ankommen können sie nie. Oder waren sie schon da, sobald sie den Fuß auf die Brücke setzten? Leningrad, das gibt es nicht mehr. Leningrad, das ist überall dort, wo MTV nie ankam. Ein russisches Märchen von Panzern und Pferdeschlitten, von Stalinorgeln und Akkordeon, von Märschen über vereiste Flüsse und Abenden am Samowar, von Morgenstunden an der Staßenbahnhaltestelle - und von schönen Mädchen und traurigen Soldaten. Es hat Zeiten gegeben, da waren noch zwei andere Konvois auf der dem Weg, den der Rote Stern ihnen gewiesen hat; Leningrad hat allerhand Cowboys angezogen. Doch inzwischen sind die Vier aus Potsdam wieder allein auf der Route.
Zwei Jahrzehnte sind sie nun schon auf dem ewigen Treck, der über Umwege stets nach Osten führt. 800 Mal wurde unterwegs geprobt, 600 Konzerte wurden gespielt, ebenso viele Liter Wodka wurden verzehrt, 480.000 Kilometer zurückgelegt, 12 Musiker verschlissen, 8 Kinder geboren, 80.000 Besucher bespaßt, ein Akkordeon abgebrannt, 8 Platten aufgenommen. Auf nordische Barbaren aus Rammstein ist man unterwegs getroffen und auf die sonnigen Toydolls, überall dort hat man gelagert, wo alle gerne einen Halt einlegen. In Steinbrücken, beim Force-Attack, im "Löwen" in Ebersbrunn, wo karierte Decken auf den Tischen liegen und Hackepeter mit Ei serviert wird. Im Café Mocca zu Thun, wo Musiker fünf Gänge verspeisen und "Musik ist Scheiße" auf dem Dach steht.
Doch da die vier stets in der Gegenrichtung fuhren, haben sich wenig Allianzen gebildet. Und niemand hat die vier bisher einsteigen lassen in seinen gepolsterten Sechsspänner. Und wenn sich doch mal eine solche Mitfahrgelegenheit bot, haben sie sich zurückgezogen und den Kartoffelgeist befragt. Das Ergebnis hieß stets: Lieber noch ein bisschen frieren - aber auf dem eigenen Schlitten. Die Einsamkeit hat dafür gesorgt, dass die vier eine eigene Sprache entwickelten. Russische Volksmusik mit den Mitteln des Aufstands: Russian Speed Folk, wie sie denen aus dem Westen sagten. Von Anfang an war das ein begehrter Dialekt, auch wenn es viele, die nach Westen blickten, lange Zeit nicht wahrhaben wollten. Längst untergegangene Sender rissen sich um die vier, und wer seine Gäste erfreuen wollte, lief gern mal hinter dem Schlitten her.
In der Weite der Steppe bleibt es nicht aus, dass Reisende verschwinden gehen. So verloren die vier auf halber Strecke ihre Stimme, ein Organ, ohne dass zu leben zunächst unmöglich schien. Es ist schließlich aber auch in diesem Fall gelungen, sich zu ändern und sich treu zu bleiben. Aber manchmal, wenn es dunkel wird am Horizont, wenn die Türen geschlossen und der Ofen geheizt ist, kommen die Erinnerungen. Und dann geht ein Gruß ins kalte Omsk.
Inzwischen sind die vier auf dem Schlitten nicht mehr so einsam wie zu Beginn der Reise. Im eigenen Land haben sich Propheten eingefunden, die in ihren Hinterhöfen Taiga, Moskwa und Ural beschwören; es haben sich auch andere Gruppen aufgemacht auf den Spuren nach Osten, manche kamen von sehr weit her. Einige davon stecken noch in dunklen Kellern, andere tanzen auf der Hochzeit der Großen und Reichen. Manche wurden dort gleich angestellt oder sind selbst recht groß und reich geworden. Die Potsdamer vier aber spielen überall - aber immer nur als Gast. Schließlich muss die Reise weitergehen. Und so lange alles beim Alten bleibt aud der Piste nach Leningrad, hat auch der Wetterkommissar ein Einsehen: Es regnet nie, wenn sie spielen.